Brief an mein jugendliches Ich

 

Liebes Tagebuch,

 

heute kreuzte ein seltsamer Gedanke meine Sinne. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich einen Brief an mein jugendliches Ich schicken könnte. Würde ich so meine Vergangenheit ändern können? Wie würde dieser Brief den Verlauf meines Lebens beeinflussen? Und vor allen Dingen: Was genau würde ich mir denn raten?

Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich im Nachhinein vieles anders machen. Zum Beispiel würde ich mich in der Berufsfachschule nicht mehr bequatschen lassen, anschließend auf das Wirtschaftsgymnasium zu gehen, wo ich kläglich scheitern sollte. Ich weiß noch genau, wie fertig mich die Situation gemacht hatte und vor allen Dingen, wie oft ich durch meinen Notenabfall mit meinen Eltern aneinander geraten war. Meine Mutter war kurz davor gewesen, mich aus dem Haus zu schmeißen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie sehr ich damals mein Leben verflucht habe.

Doch das wäre noch nicht alles. Auf jeden Fall würde ich mir raten, so schnell wie möglich mit Max Schluss zu machen. Auch wenn er mir in seinem Kostüm an Fastnacht gefallen hatte, so fand ich ihn am nächsten Tag nicht mehr anziehend. Dennoch hatte ich mich von ihm küssen und auf die Beziehung eingelassen, obwohl ich keine sogenannten Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte. Ein katastrophaler Fehler, wie schon in meinen vorherigen Einträgen erwähnt. Ich kann einfach nicht glauben, dass ein einziger Mensch so viel Schaden anrichten kann. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so matt und erschöpft gefühlt. Unscheinbar, erniedrigt und gefangen. Das würde ich mir lieber ersparen. Dann würde ich nicht ständig darauf hereinfallen, wenn Bernd vor mir auf die Knie sinkt, meine Hüfte fest umklammert, und mir unter Weinen ständig beteuert, wie leid ihm doch alles täte, nur um es ein paar Tage später wieder zu tun.

Überhaupt würde ich mir schreiben, dass ich mich nicht ständig klein machen sollte. Dafür gibt es gar keinen Grund! Mein jugendliches Ich sollte stolz und selbstbewusst durch das Leben gehen und sich von niemanden etwas einreden lassen. Wie oft war ich geduckt durch die Gegend gelaufen? Nur nicht auffallen. Niemandem zur Last fallen. Du bist nichts Besonderes …

Ständig hatten irgendwelche Leute auf mich eingeredet, die vor Selbstbewusstsein nur so gestrotzt hatten. „Tu dies! Wieso hast du nicht?“ Wenn ich mir heute überlege, was aus diesen Menschen geworden ist – viele von ihnen sind an Drogen gestorben, andere sind Alkoholiker und den Rest habe ich aus den Augen verloren.

Wenn ich über alles so nachdenke, sollte ich meinem jugendlichen Ich die beiden Ratschläge doch nicht mit auf den Weg geben. Denn genau das sind die Erfahrungen, die mich geprägt haben. Durch sie bin ich das geworden, was ich heute bin. Ich habe eine feste Arbeitsstelle und verbringe viel Zeit mit meinen Freunden und meiner Familie. Genau genommen bin ich glücklich. Hätte ich die schweren Zeiten damals nicht durchlaufen, wer weiß, wer ich heute wäre.

Doch einen Ratschlag würde ich meinem jugendlichen Ich auf jeden Fall in einem Brief mitteilen. Ein unbezahlbarer Hinweis, denn ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es besser machen. Auf jeden Fall würde ich anders handeln …

„Verbringe mehr Zeit mit deinem Vater! Der Krebs streut viel schneller als du denkst. Genieße jede einzelne Sekunde mit ihm und nimm die Momente deutlich wahr. Augenblicke sind vergänglich und keiner davon kehrt jemals zu dir zurück. Dein Vater wird kämpfen. Ein sehr langer und beschwerlicher Weg liegt vor ihm, doch er wird den Kampf nicht gewinnen können. Die Zeit arbeitet grausam gegen ihn.

Unterstütze ihn und gib ihm Kraft. Die wird er brauchen, denn ein Marathon an frustrierenden Arztbesuchen steht ihm bevor. Zweifle nicht daran, dass er starke Schmerzen hat und vielleicht sogar übertreibt. Das tut er nicht. Im Gegenteil. Seine Schmerzen werden bald so groß sein, dass er sie nicht mehr verstecken kann. Dein Vater ist kein Mensch, der übertreibt und schnell jammert. Er versucht, seine Schmerzen und sein Leid zu überspielen. Blicke hinter die Fassade und nimm Rücksicht. Sag ihm, wie viel er dir bedeutet, bevor du es nicht mehr kannst. Und hänge dich nicht zu sehr an den wenigen schlechten Erinnerungen auf, sondern denke an die vielen schönen Zeitpunkte zurück, die dir deine Eltern geschenkt haben. Sie haben ihr Bestes getan, dir so viel wie möglich zu bieten und Zeit mit dir zu verbringen. Das ist nicht selbstverständlich. Die vielen Urlaube, die Ausflüge in Vergnügungsparks und den Zirkus … du hattest wahrlich eine schöne Kindheit, aus der du Kraft zehren kannst.

Ich kann dir nur raten, nein, ich bitte dich darum: Nimm dir Zeit für ihn und stelle deine eigenen Bedürfnisse zurück. Denn du wirst es dir später, nach seinem Tod, nicht verzeihen, wenn du das nicht getan hast. Das kannst du mir glauben. Mich durchfährt jedes Mal ein Stich, doch ich hatte meine Chance und habe sie verpasst. Nutze die Möglichkeit und die gemeinsame Zeit, die euch bleibt. Eine zweite Chance gibt es nicht.“