Das Ende vom Lied

 

Schweigend schlendern wir nebeneinander her. Die Stille lastet schwer auf meinen schmalen Schultern und ich suche angestrengt nach einem Gesprächsthema, doch mir fällt keins ein. Alles erscheint mir unpassend und falsch. Ich weiß, dass sie Angst hat. Sie muss sich einfach fürchten. Anders kann es nicht sein. Vorsichtig schiele ich zu meiner Freundin Dominique, die mit hängenden Schultern neben mir läuft, das lange honigblonde Haar locker zu einem Zopf zusammengebunden. Ich habe sie immer für ihre schönen Haare beneidet, denn im Gegensatz zu ihr habe ich krauses, schwarzes Haar, das mir immer ungebändigt ins Gesicht fällt. Ganz gleich, wie sehr ich auch versuche meine Mähne zu bändigen, es ist zwecklos. Auch ihre mandelförmigen, farngrünen Augen habe ich mir in manch einer Stunde für mich gewünscht. Was würde ich nicht alles geben ihre Augen gegen meine kleinen braunen Augen zu tauschen. Dominique ist einfach perfekt. Sie könnte locker ein Model werden. Bei Mädchen und Jungs war sie gleichermaßen beliebt gewesen, bis zu jenem Tag an dem zwei Zwillingsschwestern in unsere Klasse gekommen waren. Diese hatten sofort für Unruhe gesorgt und unsere Gemeinschaft gegeneinander ausgespielt. Jetzt gilt es nur noch jeder gegen jeden. Wer nicht mit den beiden ist, ist gegen sie und Dominique haben sie von Anfang an nicht leiden können. Tagtäglich denken sie sich neue Intrigen gegen sie aus und die anderen machen auch noch mit oder gucken stumm zu. So wie ich, doch Dominique meint, dass dies in Ordnung sei. Immerhin möchte sie nicht, dass es mir wie ihr ergeht und solange ich noch ihre Freundin bin und mich nicht wie alle anderen von ihr abwende, sei ihr das genug. Ich denke, dass ist für uns beide die beste Lösung, denn was würde es helfen, wenn ich auch in die Opferrolle schlüpfen müsste? Ein Schauer fährt mir über meinen Rücken. Nein, das möchte ich nicht. Unmöglich kann ich das aushalten. Nochmals blicke ich zu meiner Freundin und frage mich, woher sie die Stärke nimmt. Ich kenne sie schon seit dem Kindergarten. Wir hatten uns damals auf Anhieb gemocht und waren von da an unzertrennlich gewesen. Ein Lächeln umspielt meinen Mund, als mir die vergangenen Jahre durch den Kopf gehen. Was haben wir nicht alles angestellt und zusammen durchgemacht. Nichts und niemand war vor uns sicher gewesen. Gemeinsam hatten wir alles erkundet und überstanden. Sie war immer für mich da gewesen, egal, welche Probleme ich hatte. Natürlich habe ich Angst, dass ich auch in das Visier der beiden Schwestern gerate, doch das Mindeste, was ich tun kann, ist ihr beizustehen. Gemeinsam schaffen wir das. Genau! Motiviert ergreife ich ihre Hand und ziehe sie hinter mir her.

 

Hungrig packe ich mein Pausenbrot aus, nur Dominique verharrt regungslos am Fleck und starrt apathisch ins Leere. Ich nehme ein paar Bissen von meinem belegten Käsebrot, dann nehme ich ihr die Tüte aus der Hand und packe ihre Schinkenbrötchen aus.

„Hey, Dome. Du musst etwas essen. Hast du denn keinen Hunger?“, spreche ich sie behutsam an und halte ihr das belegte Brötchen entgegen. Sie scheint aus ihrer Starre zu erwachen und blickt zuerst verunsichert auf meine Hand und dann zu mir auf.

„Ah, danke Jenny, aber ich habe keinen Appetit. Du kannst es haben, wenn du magst.“

Sie lächelt mich an, doch ihre Stimme klingt traurig und rau.

„Nein, du musst was essen, Dome, bitte. Ist es wegen der Sache vorhin?“, frage ich nach und drücke ihr das Brötchen in die Hand. Ein leichtes Nicken ist die Antwort auf meine Frage und ich kann ihre Reaktion verstehen. Suna und Nevin haben sie im Unterricht mit klebrigen Kaugummikugeln beworfen. Es war nicht einfach gewesen, diese wieder aus ihrem Haar herauszuholen, ohne dabei ihr Haar auszureißen oder abzuschneiden.

„Vergiss das einfach. Die ticken nicht mehr richtig, das weißt du doch. Den Tag hast du ja bald geschafft.“

Ein dummer Trost. Das ist mir bewusst, jedoch fallen mir keine anderen Argumente ein. Doch sie ist stark. Sie packt das schon. Sie nickt mir abermals zu und knabbert lustlos an ihrem Essen herum. Ich sollte sie in den Arm nehmen, ihr sagen, dass alles gut wird, aber stattdessen stehe ich nur stumpf da, wie ein Esel vor dem Stall.

„Oh, wie süß. Hat deine Mama dir ein Pausenbrot gemacht? Wie so’n kleines Kind. Bist wohl voll noch das Baby!“

Erschrocken zucken wir beide zusammen, als Suna und Nevin mit einer Horde von Mädchen an uns heran pirscht. Gewohnheitsgemäß trete ich ein paar Schritte zurück. Raus aus der Schussbahn, in Sicherheit. Dominique bleibt regungslos stehen und sieht eingeschüchtert auf den Boden.

„Hey, guck mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede“, zischt Nevin ihr entgegen und schlägt ihr mit einer schnellen Bewegung das Schinkenbrötchen aus der Hand, sodass es auf dem Boden landet und auseinanderfällt. Als Dominique den Blick nicht hebt fangen die anderen 17-jährigen an, sie zu schubsen. Lachend und höhnend stoßen sie meine Freundin wie einen Ball hin und her. Ich schlucke, rühre mich allerdings nicht vom Fleck. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Sibille aus meiner Klasse die Szene mit ihrem Handy aufnimmt. Bestimmt stellen die das ins Internet und schicken sich das gegenseitig rum, wie sooft. Ich schlucke leicht, bin jedoch nicht fähig, irgendeine Handlung zu tätigen. Es ist fast, als würde ich einen Film im Fernsehen sehen. Teilnahmslos. Unbeweglich. Doch das ist in Ordnung. Dominique weiß ja, dass ich hier bin. Ich blicke kurz auf meine Armbanduhr. Nur noch fünf Minuten. Fünf Minuten muss sie durchhalten, dann ist die Pause zu Ende.

„Hey, Nevin. Sieh mal, ist das ein altes Handy. Die lebt wohl noch in der Vergangenheit, die Olle!“, lacht Suna und klaut Dominique ihr Handy aus der Jackentasche. Als diese danach greifen möchte, schlägt ihr Suna ins Gesicht. Meine Augen weiten sich erschrocken und Angst steigt in mir auf. Dominique hält sich die Wange, während die anderen sie auslachen und damit beginnen, ihr Handy hin und her zu werfen. Tränen quellen aus ihren Augen hervor, wie ein versiegender Wasserfall. Ihr Anblick versetzt mir einen Stich in meinem Herzen. Ein Klirren lässt mich aufschrecken, als die beiden Schwestern Domes Handy gackernd auf den Boden werfen und es gegen den Mülleimer kicken, sodass es auseinanderfällt.

DING DONG

Erleichtert atme ich auf, als endlich die Pausenglocke erklingt und das Horrorschauspiel ein Ende nimmt. Lachend ziehen sich die anderen zurück und lassen Dominique und mich zurück. Eilig gehe ich auf meine Freundin zu, um sie in den Arm zu nehmen, doch sie weicht zurück, geht wortlos an mir vorbei und verlässt den Schulhof. Unsicher sehe ich ihr nach, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, dann kehre ich schnell zurück ins Klassenzimmer, allein und innerlich zerrissen.

 

Ausdruckslos sitze ich da und starre auf den schwarzen Sarg. Die Worte des predigenden Pfarrers erreichen mich nicht. Der Geruch von Myrre und Weihrauch bereiten mir Übelkeit. Tränen verschleiern mir den Blick und lassen alles um mich herum verschwimmen wie in einem schlechten Traum. Mit aller Kraft kann ich meine Tränen unterdrücken. Ich kann nicht glauben, dass Dominique in dem Sarg liegt. Kalt. Reglos. Starr.

Meine Finger krallen sich in meine Oberschenkel, suchen nach Halt, wie ein Ertrinkender, der panisch um sich greift. Wie konnte sie das tun? Wieso hat sie mich allein gelassen? Wut bildet mit Trauer ein Wechselspiel und wirft mich völlig aus der Bahn. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Dominique sich das Leben nehmen würde. Wie konnte sie mir das antun und mich einfach allein hier lassen? Wir hätten doch darüber reden können. Bestimmt hätte ich es in Ordnung bringen können. Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis ich den bleiernen Geschmack meines Blutes schmecke. Kindheitserinnerungen schießen mir durch den Kopf. Wir waren so glücklich. Was soll ich ohne sie machen? Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie sich das Leben genommen hat, dass sie diesen feigen Weg eingeschlagen hat. Erinnerung der letzten Tage jagen durch meine Gedanken und setzen sich schmerzhaft in mir fest. Warum habe ich nichts gemerkt? Ich hätte es wissen sollen. Von Tag zu Tag ging es ihr schlechter, veränderte sich der Ausdruck in ihren Augen. Der wahre Feigling bin ich. Lautlos schluchze ich auf. Ich hätte ihr helfen müssen, obwohl sie gesagt hat, es sei okay. Nichts war okay gewesen und ich hatte es tief im Inneren gewusst. Ich hatte es nicht sehen wollen, denn so war es bequemer und einfacher für mich gewesen. Dominique war immer für mich da gewesen. Und ich? Ich habe sie im Stich gelassen, als sie mich am meisten gebraucht hat. Ein Tier erwacht in meinem Inneren, zertrümmert mein Herz und flutet meinen Körper mit Schuldgefühle und Verzweiflung. Ich habe meine einzige Freundin verraten, unsere Freundschaft mit Füßen getreten. Ruckartig stehe ich auf und ziehe die Blicke der Anwesenden auf mich. Ohne ein Wort zu sagen renne ich aus der Bestattungshalle, doch ich schaffe es nicht einmal mehr aus dem Friedhof, bevor ich zusammenbreche und meinen Tränen freien Lauf lasse. Ich hätte es verhindern können. Erst jetzt begreife ich, was ich verloren habe. Dominique ist tot und wird nie mehr zurückkehren.