Der Fluch

 

Es war noch dunkel, als Linda an ihrer Arbeitsstelle ankam. Lustlos stapfte sie über den dunklen Hof. Ein leichtes Seufzen entwich ihren Lippen, als sie auf das große Gebäude zusteuerte, das sich in der Finsternis abhob und sie jedes Mal an das Tor zur Hölle erinnerte. Sie ging wahrlich nicht gern zu ihrer Arbeit. Nicht, weil Linda ihre Tätigkeit keinen Spaß machte, doch es war das Zwischenmenschliche, das nicht passte. Abends fühlte sie sich immer leer und erschlagen, als hätte man die gesamte Energie aus ihr herausgesaugt. Für einen kurzen Moment schloss sie ihre Augen und atmete tief durch. Dann betrat sie mit einem aufgesetzten Lächeln das Unternehmen.

 

Als das Display endlich 17 Uhr anzeigte, schloss sie geschwind alle Programme, schaltete ihren Computer aus, packte ihre Sachen zusammen und verließ eilig ihren Arbeitsplatz. Linda fuhr nicht sofort heim, sondern in die Stadtmitte. Sie wollte abschalten, einfach alles vergessen.

Die Straßen der Fußgängerzone waren ungewollt leer um diese Uhrzeit. Normalerweise füllten unzählige Menschen Donnerstagabends die Stadt Karlsruhe, da die meisten Geschäfte bis 22 Uhr aufhatten, doch dieses Mal war es anders. Linda wunderte sich nur kurz, doch störte sich dann nicht weiter daran. Warum sollte sie auch? Sie drängelte sich nicht gern durch laute und unaufmerksame Menschenmengen. Stattdessen genoss sie die Ruhe um sich herum und bummelte von einem Geschäft ins nächste. Sie freute sich über ihre Eroberungen und wollte gerade zurück zu ihrem Auto laufen und ihre Einkäufe in den Wagen legen, als ein kleines Plakat ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Sie leiden an Rastlosigkeit, Müdigkeit und Stress? Sie finden einfach keine Ruhe? Dann haben wir genau das Richtige für Sie! Besuchen Sie unseren Laden und entdecken Sie sich neu!

Linda stutzte. Sie konnte sich nicht von dem Aushang abwenden. Ihre Augen schweiften suchend über den Schriftzug, doch sie fand keinen Namen. Was sollte das für ein Geschäft sein? Das Plakat löste etwas in ihr aus und zog sie magisch in den Bann. Sie musste mehr erfahren!

Ein flüchtiger Blick auf die Armbanduhr genügte, um festzustellen, dass sie noch genug Zeit hatte. Beschwingt folgte sie den Pfeilen, die ihr den Weg zum Laden zeigen sollten. Ein mulmiges Gefühl ergriff sie, als sie durch eine dunkle Gasse gelotst wurde. War sie hier richtig? Linda schaute sich zögernd um, doch sie konnte keinen weiteren Hinweis ausmachen. Überall standen vollgestopfte Mülleimer herum und hüllten die Gegend in einen penetranten Gestank. Sie hielt automatisch die Luft an, während sie immer weiterging und unzählige Weggabelungen kreuzte. Ein Rascheln ließ sie zusammenfahren. Hektisch drehte sich Linda im Kreis, doch der einzige Zeuge schien der Mond zu sein, der voll und rund am Himmel auf sie herabblickte. Sie verfluchte sich innerlich. Warum war sie nicht umgedreht? Wo war sie hier? Sie musste hier weg!

Panisch wirbelte Linda herum und rannte zurück. Ihre Einkaufstüten lagen ihr wie schwere Gewichte in den Händen und behinderten sie. Ständig blieb sie an den vielen Müllcontainern hängen, bis der Inhalt sich scheppernd über den Boden verteilte. Ruckartig blieb sie stehen, ging auf die Knie und sammelte ihre Besorgungen ein.

„Was suchst du in meiner Straße?!“

Erschrocken fuhr Linda zusammen. Sie blickte auf ein Paar

zerschlissene Schuhe. Perplex starrte sie an den dürren Beinen nach oben in das Gesicht einer kleinen Frau. Ihre Haut war so faltig, dass Linda an eine alte Pflaume denken musste.

„Was meinen Sie?“, murmelte sie ängstlich und traute sich nicht, sich aufzurichten.

Die strähnigen Haare der Fremden leuchteten im Licht des Mondes silbern auf und obwohl das Rad der Zeit deutliche Spuren an ihr hinterlassen hatte, sprudelten ihre Augen vor Lebendigkeit. Doch da war noch etwas in ihnen, das Linda Furcht bereitete. Etwas besessenes, böses und verrücktes.

„Das ist mein Bezirk, du undankbares Balg! Mach, dass du wegkommst! Sofort!“

Unwirsch trat die Frau in den Lumpen nach ihrem gekauften Schmuck aus und zerstreute ihn in alle Richtungen. Linda starrte wie benommen auf eine erworbene Halskette, deren Glasanhänger klirrend auseinandersprang. Wut packte sie, überrollte sie in heißen Wogen. Das neue Gefühl half ihr, sich aufzurichten und ihrer Widersacherin gegenüberzutreten, wenngleich auch etwas unsicher.

„Das war das teuerste Stück! Haben Sie denn keinen Anstand?!“

Die Alte hob die Augenbrauen nach oben, die fast zu einer zusammengewachsen waren. Doch die Überraschung hielt nicht lange an.

„Weg hier! Sofort, habe ich gesagt! Du unfreundliches Gör!“

„Ich geh ja gleich! Verdammte, alte Schrulle!“

Sie hatte die alte Frau nicht beschimpfen wollen, doch die Worte waren einfach aus ihr herausgeplatzt. Missmutig sammelte sie ihre Einkäufe vom Boden auf, während ihre Widersacherin ihr mit verklärtem Ausdruck dabei zusah. Still. Abwartend. Lauernd.

Als Linda fertig war, dachte sie kurz darüber nach, sich zu

entschuldigen, doch der gehässige Blick der Frau ließ sie anders entscheiden. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren schoss sie an der Fremden vorbei und suchte ihren Weg zurück zur Fußgängerzone.

Die Alte sah ihr hasserfüllt nach und ihre Augen zogen sich zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Entschlossen griff sie in ihre Jackentasche und holte ein antikes Artefakt ihrer Vorfahren hervor, das sie fest in beiden Händen hielt. Sie wandte ihr Gesicht zum Mond und begann zu sprechen.

„Die jungen Menschen von heute haben keinen Respekt mehr! Sie kennen die Traditionen nicht und sinnen nur noch nach materiellen Dingen. Nach Schönheit, Reichtum und Macht. Macht will ich dir geben, oh ja! Glücklich? Glücklich sollst du damit nicht werden, du kleines Biest!“

Sie hob das antike Schmuckstück in die Höhe, sodass der silberfarbene Schleier des Mondlichts es gänzlich bedeckte und ein hasserfülltes Grinsen legte sich auf ihr Gesicht.

„Der Mond sei mein Zeuge und Vollstrecker der Tat!

Kind der Zeit, sei dir der Gegenwart gewahr!

Wann immer er dich ruft, so musst du ihm folgen!

Wann immer er es will, so musst du dich beugen!

Die Nacht wird für dich zum Tag, so wird es immer sein,

Sowohl am Tag als auch in der Nacht, bist du allein!

Verflucht bis in alle Ewigkeit, das schenke ich dir,

Die Erlösung wirst du nicht finden, nicht bei mir!

Sic erit! Et factum est!“

Das bösartige Lachen hallte in den dunklen Gassen wieder, doch Linda hörte es nicht mehr. Auch konnte sie nicht sehen, wie der Mond sich in ein Unheil verkündendes Rot färbte.

 

Linda wälzte sich aufgewühlt in ihrem Bett. Die vielen ernüchternden Eindrücke des Tages ließen ihr keine Ruhe. Die Erinnerungsfetzen flogen durch ihren Kopf wie kleine Puzzleteile. Durcheinander und ungeordnet. Das Firmengebäude, der finstere Weg, ihre Einkäufe, ihre hinterhältigen Kollegen, die falsche Moral, die alte Frau und der Vollmond …

Plötzlich saß Linda kerzengerade und starrte in Richtung ihres Fensters, wo das seichte Licht des Himmelskörpers hereinfiel und den Raum in ein weißes Tuch hüllte. Hitze flutete abwechselnd mit Kälte ihren Körper. Ihr wurde plötzlich unglaublich schlecht. Schnell stand sie auf und wankte mit wackeligen Beinen zum Bad. Sie hatte die Toilette noch nicht erreicht, als ihr Puls und ihr Herz wie verrückt zu rasen begannen. Eine Welle des Lärms brach auf sie herein, Geräusche, die nicht da sein konnten. Ihre Beine versagten ihr den Dienst und sie prallte hart auf dem Boden auf. Ihr Körper begann vor Schmerzen zu zittern, wurde unaufhörlich von Qualen geschüttelt. Etwas in ihr erwachte zu Leben. Gewaltvoll. Brutal. Unaufhaltsam. Linda wollte schreien, doch sie konnte es nicht. Schweiß drang aus ihrer Haut und mit einem lautlosen Röcheln schloss sie die Augen.

Der Geruch von Rührei mit Speck drang in ihre Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Vermutlich kochte sich Herr Herrmann einen Stock tiefer sein berüchtigtes Mitternachtsessen. Die streitenden Stimmen ihrer Nachbarn drangen deutlich in ihr Zimmer und Linda stutze. Wieso verstand sie jedes Wort? Überhaupt kam ihr der Straßenlärm viel zu laut vor. Hatte sie vergessen die Fenster zu schließen? Ermattet öffnete sie die Augen. Ganz langsam. Stück für Stück. Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Obwohl es in ihrem Zimmer finster war, konnte sie alles klar erkennen – noch besser als im

Tageslicht. Was war hier los? Irgendetwas stimmte nicht!

Vorsichtig sprang sie auf die Beine und wollte sich mit ihrer Hand durchs Gesicht fahren, doch da war keine Hand mehr. Ungläubig starrte Linda auf ihre pelzige Pranke. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen, dann stürmte sie zum Spiegel. Entsetzen packte sie. Das konnte unmöglich sie sein! Geschockt versuchte sie zu sprechen und entblößte dabei die Fänge eines Raubtieres. Ihr Magen begann zu Knurren und riss sie aus ihrer Starre. Sie hatte Hunger … so unglaublich großen Hunger. Eilig sprang sie zu ihrem Kühlschrank und riss ungeschickt mit einem Ruck die Tür heraus. Ungläubig starrte sie auf ihr Missgeschick, doch nur kurz, dann ergab sie sich ihrem Begehren und schlang den reichlichen Inhalt hinunter. Ihre Wohnung kam ihr mit einem Mal viel zu klein vor, einem Käfig gleich und der Mond schien sie zu rufen. Sie musste raus und zwar sofort!

Ungestüm floh sie nach draußen. Ein kalter Herbstwind blies ihr entgegen und sie hob ihre Schnauze in die Luft. Mehr – sie brauchte mehr! Ein Schrei ließ sie zusammenzucken. Linda wirbelte herum und blickte knurrend in das Gesicht ihrer Nachbarin, die panisch nach ihrem Mann rief. Sie beachtete sie nicht weiter und rannte durch die Stadt. Leute schrien auf, Autos kamen quietschend zum Stehen, doch Linda ignorierte sie. Sie gehörte nicht dazu – nicht mehr. Sie war keine von ihnen und sie hatte Wichtigeres zu tun. Der Drang in ihrem Innern wuchs stetig an und drohte sie zu zersprengen, wenn sie ihn noch länger zurückhielt. Als sie es endlich aus der Stadt und in den Wald geschafft hatte, ließ sie ihrem Trieb freien Lauf. Mit einem lauten Heulen zollte sie dem Mond zum ersten Mal ihren Tribut. Die Angst und die Trauer fraßen sie von innen heraus auf. Sie war allein, kein Mensch und kein Tier – sie war ein Werwolf.