Der Freak

 

Viele Gesichter starren mich an. Belustigt. Spöttisch. Arrogant. Etliche Augenpaare funkeln voller Hohn auf mich herab. Die durchsichtige Glasscheibe vermag mich nicht vor ihren Blicken zu schützen. Ich will sie nicht sehen, nicht wahrnehmen, die sensationsgierige Menschenmasse, die sich nach Unterhaltung die fettigen Finger leckt. Obwohl ich weiß, dass es ein Fehler ist, drehe ich mich um. Ich kann nicht anders. Ein stummes Seufzen entweicht meiner Kehle und ersetzt ein erdachtes Schluchzen. Ich weine schon lange nicht mehr – habe es verlernt. Das Leben im Wanderzirkus tötet jegliches Gefühl ab. Bald werde auch ich nur noch funktionieren und agieren wie eine willen- und seelenlose Puppe. Eine entstellte, halb zerfallene und missratene Konstruktion, die man vergessen hat, wegzuwerfen.

Ein lautes Wummern lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Mehrere Handflächen klatschen erbost und ungeduldig gegen die Scheibe wie ein Gewitterhagel. Die Zuschauer wollen für ihr Geld etwas geboten bekommen. Ihre Schreie und ihr Rufen verschmilzt zu einer Masse, die mich unter sich zu begraben droht. Wenn nicht gleich etwas passiert, wird Christian erscheinen und dann gibt es richtig Ärger. Nicht für sie, sondern für mich. Christian ist der Direktor unserer Gruppe. Mit ihm ist nicht zu spaßen. Ich darf ihn nicht erzürnen, denn er ist der Grund, warum ich hier bin und warum ich noch lebe. Ohne Christian bin ich ein Nichts. Das hat er mir oft genug mit seiner Peitsche zu verstehen gegeben.

Langsam sehe ich mich in meinem kleinen Glaskasten um, in dem ich platziert bin wie ein einsamer Goldfisch. Meine wandernden Blicke bleiben an den Überresten meines gestrigen Abendessens hängen und an dem verschmierten Messer. Wie in Trance taumle ich zu dem Tablett und greife nach der dreckigen Klinge. Das Tosen um mich herum verwandelt sich in ein aufgeregtes und neugieriges Raunen. Alle Augen sind auf mich gerichtet – die Missgeburt, der Freak.

Entschlossen setze ich die Waffe an mein Handgelenk und ziehe durch ohne weiter darüber nachzudenken. Denn es gibt nichts, was ich mir anders überlegen müsste. Ein rotes Meer entsteht und zum ersten Mal in meinem Leben höre ich mein Herz schneller schlagen – ich habe tatsächlich eigenhändig etwas erschaffen! Fasziniert schaue ich dabei zu, wie mein Lebenssaft über meine Haut rinnt und sich auf dem Boden verteilt. Irgendetwas explodiert in meinem Körper und schießt Wärme durch ihn hindurch. Unbekannte Gefühle kreuzen meine Gedanken, die ich damals nur durch Worte und Beschreibungen kannte. Geborgenheit. Sicherheit. Vertrauen. Wohlig schließe ich meine Augen und bade in den entsetzten Schreien der Zirkusbesucher wie in tosendem Applaus. Mehr und mehr entschwinde ich dem Hier und Jetzt bis ich tatsächlich nichts mehr höre. Letzten Endes bin ich doch aus meinem Käfig entkommen – ich bin endlich frei.