Der Schlussstrich

 

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis seine Frau Annie sich mit ihrem heimlichen Liebhaber hier treffen würde. Da war er sich sicher, denn sie trafen sich immer am letzten Gleis des Bahnhofes um ein Uhr.

Er hatte eine perfekte Sicht auf den gesamten Bahnhof und sie würden ihm nicht entgehen. Der Mann wusste, dass sie ihn selbst nicht gleich bemerken würden – seine Frau war noch nie besonders aufmerksam gewesen. Diesem Umstand hatte er es auch zu verdanken, dass sie die Nächte zuvor nicht bemerkt hatte, wie er sie verfolgt hatte, um seinen grausigen Verdacht bestätigt zu bekommen. Er wusste, dass auch dieser Anblick sein Herz entzwei reißen würde, doch ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er endlich einen Schlussstrich ziehen wollte, um nicht mehr länger leiden zu müssen.

Der Mann nahm abermals einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, bevor er sie achtlos auf die Schienen schmiss. Nur die Sterne, die mit ihrem matten Licht vergeblich versuchten, den dunklen Bahnhof zu erleuchten, würden Zeugen seiner Tat werden. Geduldig fixierte er Gleis 10 und wartete. Er musste nicht lange warten. Der schlaksige Kerl, den er zuvor etliche Male beobachtet hatte, kam als Erster an. Er hatte einen spärlichen Blumenstrauß in der Hand, der selbst in der Ferne hastig aussah, als wäre er hastig selbst gepflückt worden. Nervös fuhr sich der Liebhaber durch sein krauses Haar und schob mit dem Zeigefinger seine rutschende Brille nach oben. Der beobachtende Mann schluckte, denn er konnte die Vorfreude des Nebenbuhlers förmlich spüren, schneidend wie ein Schwert.

Missmutig verzog er sein kantiges Gesicht, während er weiterhin wartete. Ein tiefer Stich fuhr durch seinen Körper und drohte sein Herz zu zerbröseln, als er Annie erblickte, wie sie mit federleichten Schritten zu ihrem Geliebten sprang, fast so, als würde sie schweben. Ihre roten Locken schwangen im Takt ihrer Schritte mit und das neue, blaue Kleid umschmeichelte liebevoll ihren zierlichen Körper und ihre schönen, langen Beine. Krampfhaft ballte er seine Hände zu Fäusten und versuchte vehement, seinen ihn überrollenden Kummer unter Kontrolle zu bekommen. Als der Mann jedoch sah, wie sich beide Körper in einer festen Umarmung vereinigten, konnte er nicht länger warten. Er musste es zu Ende bringen. Jetzt und hier!

Verbissen bahnte er sich seinen Weg durch den kleinen Bahnhofsdschungel aus Gängen und Treppen, sein Ziel stets vor Augen haltend und sich selbst Mut zusprechend. Die letzten Stufen kamen ihm besonders mühselig vor, es war fast, als würde eine unsichtbare Macht die Stufen ins Unendliche ziehen, damit er sein Ziel nicht erreichte. Doch er schaffte es. Sein Herz zog sich zu einer runzligen Rosine zusammen, als sich die Lippen der beiden Liebenden zu einem Kuss vereinten und für beide in diesem Moment nichts und niemand anderes existierte. Er war auch einmal so glücklich mit ihr gewesen, doch nun war es vorbei. Endgültig.

Eine eisige Kälte stieg in ihm auf und verdrängte jegliches Gefühl. Er hieß sie willkommen, denn sie würde ihm nun als treuer Freund bei Seite stehen, um das lang ersehnte Ende herbeizuführen. Er atmete noch einmal die kühle Nachtluft ein, dann trat er aus dem Dunkeln auf das glückliche Paar zu. Erschrocken wie Rehe, die den Jagdschuss hören, fuhren beide auseinander.

 

„Küsst meine Frau denn so gut, dass du gar nicht mehr von ihr ablassen kannst?“

 „Ich … ähm.“ Unsicher flogen die Blicke des schlaksigen Mannes zwischen der Frau und ihrem gelassen wirkenden Ehemannes hin und her. Nervös schob er seine große Brille zurecht.

„Frank, du … was machst du hier?“, durchbrach Annies ängstliche Stimme die angespannte Stille.

„Warum stellst du mir deine neuste Errungenschaft nicht vor?“

 

Keiner der beiden hielt den schlaksigen Liebhaber auf, als dieser eilig die Treppen hinunterflüchtete.

 

„Auf Schlappschwänze stehst du also. Kein Wunder, dass es bei uns nicht mehr funktionieren kann“, stellte der Mann mit monotoner Stimme fest, über den Augen den Schleier der Gleichgültigkeit.

„Frank, bitte … lass es mich dir erklären!“

 

Verächtlich zog der Mann eine Augenbraue in die Höhe und griff in die Innentascheseiner Jacke.

 

„Du brauchst mir nichts mehr zu erklären, Annie – hübschsiehst du heute aus. Passend für unseren endgültigen Schlussstrich.“

 

Ein lauter, angstverzerrter Schrei hallte durch den Bahnhof, als der Mann mit einer ruhigen, aber bestimmten Bewegung eine Pistole unter seiner Jacke hervorzog und auf seine vor Furcht bibbernde Frau richtete.

 

„Bitte, Frank. Um Himmels willen, bitte nicht!“

 

Ausdruckslos bohrten sich seine grünen Augen in die ihren, als er langsam den Abzug drückte.

 

PONG!

 

Irritiert blickte sie auf das kleine Fähnchen, das aus der Pistole geschossen war, bevor eine Schimpftriade den Weg aus ihrer Kehle erreichte. Erleichtert lächelnd ließ er sie stehen und zündete sich noch eine Zigarette an. Die Scheidungspapiere würde er gleich morgen beantragen. Befreit trat er aus dem Gebäude und blickte hinauf zu den Sternen, die nun heller als zuvor leuchteten und ihm zu seinem endgültigen Entschluss gratulierten.