Die Entscheidung

 

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Den nächsten Zug würde er nehmen und auf den sich entfernenden Bahnhof starren, genau in zehn Minuten. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und lehnte sich gedankenverloren an die Betonsäule. Es war schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Dennoch war er sich sicher, dass es für ihn keinen anderen Weg gab, auch wenn es ihn schmerzte, alles zurücklassen zu müssen. Der Achtundzwanzigjährige schloss kurz seine grünen Augen und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn Isabelle und der kleine George hier wären, um ihn zu verabschieden. Sein Sohn würde ungeduldig von einem Bein auf das andere springen, die kachelförmigen Markierungen des Bodens als Hindernis nutzend. Er wäre viel zu klein, um zu verstehen, dass dies ein Abschied für immer wäre. Isabelle, seine Frau, würde eines ihrer türkisenen Kleider tragen, denn diese Farbe stand ihr besonders gut. Ihre hüftlangen, hellbraunen Haare hätte sie eilig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre mandelförmigen, braunen Augen, wären wegen des bevorstehenden Abschieds, mit Tränen gefüllt. Er würde sie nicht in den Arm nehmen, nicht bevor sein Zug halten würde, denn sonst würde die unsichtbare Folie reißen, mit der sie so emsig ihre gläsernen Tränen zurückhielt. Sie war eine starke Frau, dessen war er sich sicher. Kaum zu glauben, dass sie ganze acht Jahre jünger war als er. Er liebte sie, andernfalls hätte er sie nicht vor zwei Jahren geheiratet, denn eigentlich hatte er nie heiraten wollen. Doch der Gedanke, dass sie jemand anderes finden könnte, jemand in ihrem Alter, der besser zu ihr passte, hatte ihn damals dazu getrieben, sie regelrecht zur Heirat zu drängen. Nun, er hatte bekommen, was er wollte. Zumindest bis vor ein paar Monaten. Ein melancholisches, wenngleich auch etwas amüsiertes Grinsen, huschte über das Gesicht des Mannes, bei der Vorstellung, wie sie tadelnd auf George einredete, weil dieser zu nah an den Gleisen spielte. Er würde den gleichen Schmollmund ziehen wie seine Mutter, denn das hätte er bei ihr abgeguckt, seinen blonden oder braunen Haarschopf widerspenstig schüttelnd. Ein leichter Stich fuhr durch sein Herz, denn er wusste, dass er einen solchen Moment nie erleben würde. Überhaupt würde er seinen Sohn nie heranwachsen sehen und der Wunsch Isabelle noch einmal in seinen Armen zu halten würde ihm verwehrt bleiben, wenn er in diesen Zug einsteigen sollte. Reumütig warf er die Kippe beiseite und starrte ins Leere. Noch hatte er die Wahl, aber was für eine Wahl war das schon? Er war nicht bereit dazu, war doch noch viel zu jung…

Zugegebenermaßen, als Isabelle ihm freudestrahlend vor ungefähr acht Monaten mitteilte, dass sie schwanger sei, hatte er sich sehr schwergetan, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Für so viel Verantwortung fühlte er sich einfach noch nicht bereit. Natürlich hatte er den erfreuten Ehemann gespielt, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Sie hatte so gestrahlt, dass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, offen mit ihr zu reden. Als jedoch vor wenigen Monaten die Prognose kam, dass George mit einer starken Behinderung zur Welt käme, konnte er seinen Missmut nicht mehr vor ihr verbergen. Er hatte versucht, sie zur Vernunft zu bringen und das Kind abtreiben zu lassen, doch Isabelle hatte sich vehement dagegen gewehrt. Bei der Erinnerung an ihren Streit strich er sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und fingerte nach der nächsten Zigarette. Sie hatte so viel geweint und er konnte weinende Frauen einfach nicht leiden – hatte er noch nie. Um des Friedens willen, hatte er nachgegeben und gesagt, dass er sie unterstützen würde, auch wenn sie das Kind bekommen sollte. Der Mann biss sich auf die Unterlippe, bis er den bleiernen Geschmack von Blut auf seiner Zunge schmeckte. Er konnte das einfach nicht! Er war noch nicht bereit, so eine große Verantwortung zu übernehmen. Ein Säugling war schon Verpflichtung genug, aber dann noch ein behindertes Kind… Unmöglich! Hätte sie das bloß eingesehen, dann müsste er jetzt nicht nachts am Bahnhof mit gepackten Koffern stehen und auf den nächsten Zug zum Flughafen warten. Sie war selbst schuld, dass es so weit gekommen war und dennoch, wieso waren da diese nagenden Zweifel? Isabelle war seine Frau und acht Jahre jünger als er. Wenn er sich zu jung für solch eine Verantwortung fühlte, wie musste es ihr dann erst ergehen? Er war sich bewusst, dass es kein Kavaliersdelikt war, eine schwangere Frau still und heimlich zu verlassen, doch wenn er hierblieb… Was war das für eine Zukunftsoption? Er krampfte seine Finger in der Jackentasche zusammen und starrte verbissen auf den Boden. Isabelle hatte schon so viel für ihn getan. Ihr hatte er es zu verdanken, dass er den erdrückenden Schuldenberg los war, den er in ihre Beziehung mitgebracht hatte und er liebte sie doch. Ein lautes Quietschen hallte in der großen und menschenleeren Halle wider, als der Zug ruckartig vor ihm zum Stehen kam. Er musste sich jetzt entscheiden.

 

Fast geräuschlos setzte sich der rote Nachtzug wieder in Bewegung und fuhr in die weite Nacht hinaus, bis die roten Schlusslichter immer kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden, den menschenleeren Bahnsteig zurücklassend.