Die ganze Wahrheit

 

Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein mit meiner kleinen Schwester zu Hause, da meine Eltern ausgegangen waren, um ihren Hochzeitstag zu feiern. Es war ein harter Kampf gewesen, bis meine Schwester eingeschlafen war und der Hund hatte schon ein paarmal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Nun lag ich im Bett und wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete schnell die Augen und sah direkt auf einen Jungen in meinem Alter. Er saß entspannt in meinem ausgebeulten Sessel, die Arme übereinander geschlagen und hatte das Licht meines Zimmers angemacht. Ich stieß einen spitzen Schrei aus und mein Körper schoss von alleine in die Höhe, sodass ich kerzengerade in meinem Bett saß.

„Tsss … Corey, Corey, Corey. Warum schreist du denn so? Möchtest du denn deine kleine Schwester aufwecken?“

Ich schluckte und zwang meinen zitternden Körper zur Ruhe. Er kam mir bekannt vor, dennoch konnte ich mich nicht an ihn erinnern. Wer war er? Wie kam er hier rein? Wo war Rudi, unser Schäferhundmischling? Meine Hände umklammerten so fest mein Bettlaken, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Mein Mund öffnete sich, doch kein Laut kam über meine Lippen.

„Corey, erkennst du mich etwa nicht mehr?“

Ich schüttelte eilig meinen Kopf und meine Augen suchten verzweifelt mein Zimmer nach einem Fluchtweg ab. Seine eisblauen Augen weiteten sich überrascht. Langsam richtete er sich auf und fuhr sich durch seine strähnigen, blonden Haare. Er war einen Kopf größer als ich, genau die richtige Größe für einen Mann. So hatte ich mir früher immer – wie vom Blitz getroffen saß ich da, als die Erkenntnis mich schlagartig durchfuhr. Hitzewellen durchströmten meinen Körper. Das konnte nicht sein. Unmöglich konnte er hier sein.

„Troy?“, brachte ich mühsam hervor und ein dicker Klos machte sich in meiner Kehle breit. Sein Gesicht erhellte sich und er schnippte erfreut mit den Fingern.

„Bingo, Corey. Du hast es erfasst.“

„Nein, das … das kann nicht sein. Du – du bist nicht echt!“

Ich sprang panisch von meinem Bett und rannte zur Tür, hinaus aus meinem Schlafzimmer und die breite Treppe hinunter durch den Flur und in die Küche. Er konnte nicht hier sein! Es musste eine Einbildung sein. Bestimmt war es ein Traum. Milch. Ich brauchte eine heiße Milch mit Honig. Das beruhigte. Früher hatte das immer geholfen. Es war jetzt fast fünf Jahre her. Alles war die letzten zwei Jahre gut verlaufen. Wieso hatte ich ausgerechnet jetzt einen Rückfall? Ich schüttete die Milch hektisch in eine Tasse und stellte diese in die Mikrowelle.

„Du hast den Honig vergessen, Corey.“

Ich fuhr erschrocken zusammen, als die Stimme direkt neben mir erklang. Tränen bahnten sich aus meinen Augen und liefen über meine Wangen. Ich biss auf meine Lippen und unterdrückte mit aller Kraft ein Schluchzen. Kopfschüttelnd trat ich ein paar Schritte zurück. All die Jahre der Therapie konnten doch nicht umsonst gewesen sein. Und vor allen Dingen durfte es sich nicht wiederholen. Das würde ich nicht überleben.

„Du kannst unmöglich hier sein. Du bist ein erfundener Fantasiefreund. Eine spätkindliche und hartnäckige Phase, die ich hinter mir gelassen habe. Du bist nicht echt!“, schrie ich ihn hysterisch an, doch Troy schüttelte nur lachend seinen Kopf und es bildeten sich diese feinen Grübchen, die ich damals immer so an ihm geliebt hatte. Mein Herz wurde schwer und ich versuchte, mir abermals einzureden, dass er nicht hier war. Doch das Bild blieb bestehen.

„Bitte, hör auf zu weinen. Du hast so schöne, hellgrüne Augen, Corey. Die sollten nicht mit Tränen gefüllt sein … Ich weiß, was sie dir angetan haben. Was du durchmachen musstest. Es tut mir leid, dass ich dir nicht beistehen konnte. Jedoch jetzt bin ich wieder da. Lass mich dir beweisen, dass ich real bin.“

Mit einem bittersüßen Grinsen öffnete er die Kühlschranktür und holte den Honig heraus, um ihn mir zu reichen. Wie versteinert starrte ich ihn an. Das war nicht möglich. Wie konnte er das tun, wenn er nicht wirklich da war? Aufmunternd zwinkerte er mir zu und ich streckte meine zitternde Hand nach dem Honig aus. Ein eisiger Schauer durchfuhr meinen Körper, als meine Hand die Plastiktube umgriff und dabei seine Hand streifte.

„Wie ist das möglich?“, wisperte ich fassungslos und meine Finger umspielten unablässig die Honigtube, die genauso real schien wie Troy selbst. Die unterschiedlichsten Gefühle durchströmen meinen Körper. Verwirrung. Angst. Wiedersehensfreude. Zweifel.

„Ich hab dich vermisst, Corey. All die Jahre. Ich wollte dir helfen, doch ich konnte nicht, denn die Medikamente, welche sie dir gegeben hatten, waren zu stark. Du bist groß geworden.“

Er zwinkerte mir zu und ein warmer Schauer durchlief meinen Körper, genauso wie es früher gewesen war. Verwirrt sah ich ihn an und erst jetzt bemerkte ich, dass auch er erwachsener geworden war. Ich biss mir kurz auf meine Unterlippe, denn es stand ihm verdammt gut. Das war alles so verrückt.

„Ich hab dich auch vermisst“, gestand ich immer noch perplex und fühlte mich wieder wie vierzehn. All die Jahre hatte man mir eingetrichtert, dass er ein Trugbild meiner Fantasie und ich selbst verrückt sei. Ich war in Therapie und schließlich in die Jugendpsychiatrie eingewiesen worden. Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens gewesen. Ein reiner Albtraum. Sein Gesicht wurde ernst, als hätte er meine Gedanken gelesen, und er ergriff vorsichtig, doch bestimmt meine Hand.

„Corey, du glaubst doch nicht etwa, dass es meine Schuld ist? Ich habe dir das nicht angetan. Würde ich nie. Bitte erinnere dich. Erinnere dich an die ganze Wahrheit. Bitte.“

Er sah mir tief in die Augen und ich versank in den seinigen. Ich nickte leicht und gab mich dem vertrauten Gefühl hin, das meine Haut prickeln ließ. Entschieden schloss ich die Augen und versuchte mich an die Ereignisse der letzten Jahre zu erinnern, die ich durch und nach der Therapie erfolgreich verdrängt hatte. Zuerst sah ich nichts. In meinem Schädel herrschte nur eine schwarze Leere, doch dann schossen mir plötzlich Bilder durch den Kopf wie Autos auf einer Rennbahn. Rasant und unausweichlich. In wenigen Minuten erlebte ich alles noch einmal: die abwertenden und ungläubigen Blicke meiner angeblichen Freunde, als ich ihnen von Troy erzählt hatte. Die Streitigkeiten mit meinen Eltern, weil sie mir nicht geglaubt und mich nicht hatten leben lassen, wie ich hatte leben wollen. Die vielen und verhassten Stunden beim Psychiater, der mich von Anfang an wie eine verlorene Seele angesehen hatte. Die vielen Medikamente. Die Einweisung in die Klinik, wo man mich etliche Male ans Bett gefesselt hatte, weil ich stur gewesen war. Meine Angst. Meine Hilfeschreie. Der Schmerz.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Mein Herz schrie tief in mir auf und ich begann im Haus herum zu laufen. Ja, Troy konnte nichts dafür. Die anderen waren Schuld, dass ich so leiden hatte müssen. Troy hatte mir immer nur helfen wollen und wurde damals gewaltsam von mir entrissen. Ein Funken begann in mir zu brennen und loderte zu sprühenden Flammen der Wut und des Hasses auf. Zorn auf meine Eltern, die mich in die Anstalt eingewiesen und mit Medikamenten vollgestopft hatten. Wut auf meine angeblichen Freunde, die mich mit einem Schlag alle verlassen hatten, als ich sie am meisten gebraucht hatte. Zorn auf meine kleine Schwester, die der Sonnenschein der Familie war, während ich die Schattenseite darstellte. Meine Gedanken rasten wild durcheinander und machten mir das Denken unmöglich. Ich sah meine Schwester vor mir: schlafend, wie ein Engel. Da wurde es plötzlich schwarz vor meinen Augen und ich ließ mich von den schwarzen Wogen meines Hasses tragen.

Der Schrei meiner Mutter löste die dunklen Wolken, die meinen Verstand vernebelten. Ich blickte von ihren Augen, in denen sich Entsetzen und Panik widerspiegelten, zu meinen Händen hinab, die die Kehle meiner reglos daliegenden Schwester fest umklammerten. Erschrocken ließ ich von ihr ab. Mein Vater griff nach seinem Telefon, während meine Mutter ununterbrochen weinte. Troy lachte unaufhörlich und trat Rudi, der ihn anbellte, mit einem festen Kick gegen die Wand. Ich starrte wie gebannt auf meine Handflächen und plötzlich trübte sich meine Sicht. Erst jetzt, viel zu spät, erinnerte ich mich an das, was mir Troy damals, kurz vor seinem Verschwinden, gesagt hatte: Mein wirklicher Name ist nicht Troy, sondern Azazel – gefallener Engel und Dämon – dein Leben und deine Seele gehören mir. Für immer.

Dunkelheit fraß mich von innen heraus auf. Mit einem markerschütternden Schrei drang mein Schmerz nach draußen und ich sackte kraftlos zusammen.