Die Reise

 

Mit zitternden Fingern drückte Manuela die Tasten des Telefons der öffentlichen und dreckverschmierten Telefonzelle hinunter. Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, damit sie ihrer Stimme einen halbwegs unbeschwerten Ton verleihen konnte. Wie sollte sie sonst ihrer Mutter glaubhaft ihren angeblichen Aufenthalt in Andalusien glaubhaft machen? Ihre Familie durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie daheim, im trostlosen Maximiliansau war. Allein. Verlassen. Deprimiert.

„Iris hier, hallo?“, erklang nach etlichem Tuten die warme Stimme ihrer Mutter, die ihr einen elektrischen Stich ins Herz versetzte.

„Hallo Mama, ich bin’s – Manu“, antwortete sie so unbekümmert und fröhlich wie möglich, jedoch fühlte sie sich dabei schlecht und verlogen. Sie war eine Lügnerin, doch sie konnte nicht anders.

„Manu, mein Schatz. Wie geht es dir? Wie ist Spanien so?“

Nervös zwirbelte Manuela an ihrer blonden Haarsträhne. Die Stimme ihrer Mutter klang so ehrlich, erfreut und voller Liebe. Wenn diese nur wüsste…

„Mir geht es gut. Spanien ist wirklich wundervoll. Du würdest es lieben. Jeden Tag über 30 Grad, strahlend blauer Himmel von morgens bis abends und jede Menge Palmen, sogar hier vor der Zelle. Dattelpalmen, nehme ich an. Einfach klasse.“

Tränen stiegen ihr bei ihren eigenen Worten in die Augen und bei der Vorstellung, wie Steve und sie sich am Strand glücklich räkelten. Doch die Realität sah anders aus. Grau, trostlos und kalt.

„Schön. Das freut mich. Dann liegt ihr bestimmt oft am Strand und lasst euch sonnen oder macht Steve das nicht mit? Ein bisschen mehr Farbe würde ihm guttun.“

Der leicht vorwurfsvolle Unterton in der Stimme ihrer Mutter entging Manuela nicht. Ihre Mutter hatte Steve noch nie leiden können. Oft hatten sie sie gewarnt und trotzdem hatte sie ihn stets verteidigt. Nicht selten hatten sie wegen ihm gestritten.

„Tja, du kennst ihn doch. Er meinte nur zu mir: Wer will denn heutzutage noch braun werden? Na ja, aber dafür haben wir eine traumhafte Bootsfahrt bei Vollmond gemacht.“

Die Siebenundzwanzigjährige biss sich leicht auf ihre schmalen Lippen. Die Vorstellung war einfach zu schön und sie zwang ihre Tränen mit aller Gewalt zurück. Sie musste selbst an ihre Lüge glauben, wie sollte sie sonst ihre Mutter überzeugen?

„Soso, eine romantische Bootsfahrt. Die hat Steve gebucht, oder?“, argwöhnte ihre Mutter misstrauisch und jetzt war Manuela zum ersten Mal nicht darüber erzürnt.

„Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Wirklich, es war ganz ohne Hintergedanken. Einfach nur die Zweisamkeit und die romantische Stimmung genießen. Es war wirklich schön.“

Schweigen. Manuela schloss kurz ihre Lider. Lange würde sie das nicht mehr durchstehen. Als sie ihre hellgrünen Augen öffnete stand ihre Rettung direkt vor der versifften Telefonzelle.

„Mama, ich muss jetzt Schluss machen. Es steht jemand vor der Zelle. Ich klingel die Tage wieder bei dir durch, versprochen.“

„Oh, schade. In Ordnung. Ich wünsche dir noch viel Spaß, mein Schatz. Lass es dir gut gehen. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch. Richte den anderen einen lieben Gruß von mir aus.“

„Aber sicher.“

„Danke. Tschüss.“

Mit einem kleinen Anflug von Erleichterung ließ sie den Hörer auf den zerkratzten Kasten sinken und verließ müde die Zelle. Sie spürte die Blicke der wartenden, älteren Frau wie Nadelstiche, die sich direkt unter ihre Haut bohrten. Wissend. Durchschauend.

Eilig schlängelte sie sich an ihr vorbei und hastete nach Hause. Doch jeder Schritt, den sie tätigte, ließ die Erleichterung weichen und schuf Platz für die bittere Wahrheit. Die Erinnerung holte sie wie ein Lauffeuer ein. Die schönen vier Jahre mit Steve, ihre Naivität und Blindheit, weil sie an ein Trugbild geglaubt hatte. Wie glücklich war sie gewesen, als er sie mit der gebuchten Reise überrascht hatte und wie seltsam er sich doch einen Monat später ihr gegenüber verhalten hatte. Distanziert. Abweisend. Lieblos.

Der instabile Damm brach nun endgültig. Verzweifelt wischte sie sich die Tränen aus dem schmalen Gesicht. Warum nur war sie so blöd gewesen? Spätestens, als er gemeint hatte, sie würden sich erst am Flughafen treffen, hätte sie etwas ahnen müssen. Doch das hatte sie nicht getan. Im Gegenteil: sie war gutgelaunt und mit vollgepackten Koffern zum Flughafen gefahren, hatte ihn eine Ewigkeit gesucht bis sie ihn endlich gefunden hatte. Steve hatte dagestanden und sie eisig angelächelt. Im Arm eine Brünette, aufgetakelt und im gleichen Alter wie sie selbst.

Manuela schluchzte bei der schmerzhaften Erinnerung auf. Ihr ganzer Körper schrie vor Pein. Nie hatte sie an ein so jähes Ende geglaubt und schon gar nicht an so ein grausames. Warum musste er sie erst an den Flughafen bestellen, um mit ihr Schluss zu machen und seine neue Flamme zu präsentieren, die er statt ihrer mitgenommen hatte? Das konnte sie nicht ihrer Familie erzählen. Nicht, wo sie ihn immer so vehement verteidigt hatte. Ein ‚das haben wir dir gleich gesagt‘ konnte sie jetzt unmöglich ertragen. Sie fühlte sich so gedemütigt, so erniedrigt und klein. Der graue Himmel gab ein letztes tiefes Grollen von sich, dann brach auch er seinen Damm und benetzte die kleinen Straßen mit seinen schillernden Tränen.