Gabriel

 

Sein Kopf ist stur geradeaus gerichtet. Scheinbar interessiert lauscht er den Worten der Lehrerin, die vorne an der Tafel steht und ununterbrochen etwas von Gleichungen redet, während die Kreide quietschend über die Tafel tanzt. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich auf den Unterricht konzentrieren kann, denn keiner von uns kann das. Doch im Gegensatz zu Gabriel probieren wir es erst gar nicht. Die Mädchen schicken sich unter den Bänken einige Kurzmitteilungen und blättern in irgendwelchen kitschigen Magazinen, während die meisten meiner Mitschüler Filmchen auf ihren Smartphones ansehen. Und ich? Ich sitze da und beobachte gebannt den blonden Siebzehnjährigen, der so gelassen wie möglich dasitzt und sich dem Lernstoff widmet, ungeachtet der etlichen Papierkugeln, die von hinten auf ihn niederprasseln wie ein Dauerregen. Seine Miene scheint versteinert, so glatt und ebenmäßig, dass er mich an einen Elfen erinnert, der sein Schicksal erhaben und anmutig trägt. Und zu tragen hat er wahrlich genug, seit ihn Christoph und seine Kumpels als Opfer auserkoren haben. Eigentlich kann Gabriel gar nichts dazu, denn er hat ihnen nicht den geringsten Anlass gegeben. Doch so ist das nun mal. Es braucht keinen triftigen Grund, ausreichend ist eine Auffälligkeit im Verhalten oder bei der äußeren Erscheinung und Gabriel sieht anders aus. Er wirkt so zerbrechlich und zierlich, fast wie ein Mädchen. Das reicht aus, um in die Opferschiene zu fallen. Tagtäglich erträgt er schweigend die Mobbingattacken der anderen und noch nie hat er sich beschwert, gejammert oder gar geweint. Er ist tapfer und geduldig. Dafür respektiere ich ihn sehr, auch wenn ich das nie vor den anderen zugeben würde. Immerhin möchte ich nicht in dieselbe Situation geraten. Er mag noch so gelassen wirken, dochich habe ihn bemerkt, den dunklen Schleier der Traurigkeit, der sich in Situationen wie diesen über seine meeresblauen Augen legt und sietrübt. Das Leuchten in ihnen ist schon lange erloschen. Ob es wohl wiederkehrt, wenn er die Schule abgeschlossen hat? Ich wünsche mir das auf jeden Fall für ihn, denn er hat es verdient. Doch innerhalb der nächsten Stunde wird das nicht passieren, denn dann haben wir Sport und die Mobbingattacken werden danach für gewöhnlich umso härter werden. Mein Herz macht einen großen Sprung, als er sich zu mir dreht und seine Augen den meinigen begnen. Schnell wende ich mich ab und starre auf mein aufgeschlagenes Heft. Was er wohl über mich denkt? Ich werde es nie erfahren, denn wir leben in verschiedenen Welten. Wie gerne würde ich mich mal mit ihm unterhalten, mit ihm ins Kino oder in eine Disco gehen. Irgendetwas, was Freunde halt so machen. Genau: Freunde. Nicht mehr und nicht weniger …

 

„Hey Mike, kann ich mir dein Deo pumpen? Meins is‘ alle und ich stink, wie‘n Schwein.“

„Klar, kein Ding. Bedien dich“, antworte ich Kalle und hebe ihm gleichzeitig meine halbvolle Dose hin, welche er sofort ergreift und sich damit einsprüht, als wolle er darin baden. Jedoch lasse ich ihn gewähren, denn meine Aufmerksamkeit gilt Gabriel, der sich so abseits wie möglich vom Rest von uns umzieht. Er sitzt immer auf dem gleichen Platz in der Umkleidekabine, unscheinbar und still. Ein leichter Schauer jagt über meinen Körper, als ich ihn heimlich beobachte, wie er eilig sein T-Shirt überstreift und seine blasse Haut wieder bedeckt. Jede Sekunde ist kostbar für mich, denn er ist unglaublich schnell beim Umziehen. Als er gerade nach seiner Sporttasche greifen möchte, um die Umkleidekabine zu verlassen, stellt sich ihm Christoph mit verschränkten Armen in den Weg. Seine Mundwinkel haben sich zu einem bösen Grinsen verzogen und seine Augen visieren Gabriel an, als wollten sie ihn an Ort und Stelle in den Boden rammen. Ich schlucke leicht und stehe langsam auf, um meine Sachen zusammenzupacken.

„Hey, Gabi. Warum so eilig? Ich habe fast den Eindruck, du magst es bei uns nicht besonders“, witzelt er boshaft und Nadelstiche hätten nicht spitzer sein können. Wortlos versucht sich Gabriel an ihm vorbeizuschieben, doch dieser stößt ihn hart zurück, sodass er gegen die Wand taumelt und seine Tasche auf den Boden fällt. Kalle, der die ganze Zeit neben mir gestanden hat, schlendert lässig auf die beiden zu und versetzt der abgenutzten Tasche einen festen Tritt, sodass sie aus der Reichweite beider Parteien schlittert. Christophs Gruppe pirscht wie eine Horde Raubtiere heran, während die anderen und ich im Hintergrund verharren. Manch einer neben mir lacht amüsiert auf, andere verdrehen genervt die Augen oder geben ein gelangweiltes Gähnen von sich, doch eingreifen tut keiner. Starr stehe ich da und sehe tatenlos zu, wie die Meute im gefährlichen Spiel ihr Opfer umkreist.

„Sag mal, Gabi, bist du eigentlich in der falschen Umkleide? Die Mädchenumkleide ist nebenan“, höhnt Christoph und beginnt dröhnend zu lachen, sodass seine Sommersprossen fast aus seinem Gesicht zu springen scheinen.

„Sorry, aber ich wüsste nicht, was ich dort sollte“, antwortet Gabriel mit ruhiger, jedoch sehr dünner Stimme, und gibt sich Mühe, selbstbewusst und selbstsicher zu erscheinen.

„Unsere Transe weiß nicht, was sie dort soll. Hast du das gehört Chris? Ist er nicht schnuckelig, unser kleiner Schwuli?“, keift Max, der direkt hinter Gabriel steht und versetzt diesem einen knallenden Schlag auf den Hinterkopf. Ich beiße mir auf meine Unterlippe und fahre nervös mit einer Hand durch meine schwarzen Locken. Irgendwie ist es heute noch schlimmer als sonst. Bisher waren es mehr verbale Attacken gewesen, doch heute ist es anders. Mein Magen beginnt zu krampfen und ich halte meine Hand beruhigend auf meinen Bauch. Das Lachen um mich herum wird lauter und die Kabine scheint zu schwanken.

„Bist wohl in unsere Kabine, um zu spannen, was? Wir machen dich wohl scharf, ne?“, zischt ihm Kalle von der rechten Seite entgegen und beginnt ihn zu stoßen. Die Luft wird schlagartig dünner, als Christoph sein Knie hochzieht, direkt in Gabriels Magen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sinkt Gabriel zu Boden.

„Meinst wohl, wir wissen nicht, dass du uns angaffst, du Perverser. Ich hab dein Schwulenmagazin in deinen Sachen gefunden.“

Er ist schwul? Das ist abstoßend und unnatürlich, doch warum vollführt mein Herz dann freudig erregte Sprünge? Ich weiß nicht, wer von der Meute damit beginnt nach ihm zu treten, aber in Sekundenschnelle stimmen die anderen mit ein. Hitzewellen schießen durch meinen Körper und der Schweiß tropft von meiner Stirn. Das geht zu weit, das darf nicht sein. Wieso hilft ihm denn keiner? Mit vernebeltem Blick sehe ich zu den restlichen Klassenkameraden, welche die Meute hitzig und jubelnd anfeuern. Schlagartig wird mir bewusst, dass niemand etwas unternehmen wird. Als Gabriel aufschreit, fährt es mir durch Mark und Bein, doch ich scheine der Einzige zu sein, dem es so ergeht. Seine Peiniger schlagen und treten ununterbrochen auf ihn ein, während Gabriel sich auf den Boden zusammengerollt hat und seine Hände schützend vor sein Gesicht hebt.

‚Die Prügeln ihn tot. Sie werden nicht aufhören, bevor er sich nicht mehr bewegt‘, schießt es mir durch den Kopf und mein Auge beginnt zu zucken. Mein mickriges Herz scheint aufzureißen und Verzweiflung, Furcht und Hilflosigkeit kriechen daraus hervor. Ich muss eingreifen, doch warum bewegen sich meine Beine nicht vom Fleck? Dumpfe Geräusche gemischt mitbösartigen Lachen und Beschimpfungen erfüllen die Luft und lassen sie vibrieren. Da entdecke ich das Taschenmesser in Christophs Hand, welches gefährlich aufblitzt. Das ist der Moment, in der die Panik Besitz von meinem Körper ergreift. Mit großen Schritten setze ich mich in Bewegung und komme mir selbst viel zu langsam vor. Gerade als er das Messer nach unten sausen lässt, ergreife ich seinen freien Arm und wirble ihn zu mir herum. Christophs graue Augen werden so groß wie Äpfel und seine Lippen bewegen sich unablässig, doch ich höre ihn nicht. Selbst die Rufe und das Gelächter der anderen sind mit einem Schlag verstummt. Alles was bleibt ist ein stechender Schmerz, der durch meinen Bauch fährt, und schwarzer Nebel, der meine Sinne abtötet. Meine Beine geben nach und ich spüre, wie ich falle. Ohne Gegenwehr lasse ich mich von den reißenden Wogen des Schlafs davontragen.

 

„Mike, wo bleibst du? Beeil dich, du kommst sonst zu spät“, dringt die helle Stimme meiner Mutter in mein Zimmer.

„Sofort“, rufe ich gehetzt zurück und fahre nachdenklich durch mein Haar, bevor ich meine Schulsachen schnappe und nach draußen eile. Heute gibt es Zeugnisse. Mein erstes Zeugnis an der neuen Schule. Der Vorfall vor einem halben Jahr hat uns alle ziemlich mitgenommen. Es ging noch einmal gut aus, dennoch haben sowohl Gabriel als auch ich die Schule gewechselt und ich muss zugeben, die neue ist nicht mal so übel. Besonders für ihnistes die richtige Entscheidung gewesen. Lächelnd verabschiede ich mich von meiner Mutter und renne nach draußen, wo Gabrielbereits auf mich wartet. Mein Leben könnte zurzeit nicht besser laufen, jetzt muss ich nur noch meinen Eltern beibringen, dass Gabriel und ich mehr sind als nur gute Kumpel.