Glück im Unglück

 

Es gibt Tage, die gehören schlichtweg verboten. Und heute ist so ein Tag. Fassungslos stehe ich wie ein ausgesetzter Hund vor der Straßenlaterne und starre auf das aufgebrochene Fahrradschloss, welches vor ein paar Stunden an meinem Mountainbike angebracht gewesen war. Eine Stunde habe ich in dem Supermarkt verbracht, weil die Hölle los ist. Keine Ahnung warum, vielleicht gibt es ein Sonderangebot, welches ich verschlafen habe. Auf jeden Fall herrscht ein Ansturm als würde morgen die Welt untergehen. Ein Blick auf meine Uhr genügt, um mir einen Knoten im Magen zu drehen. In nicht einmal einer Stunde bin ich mit meinen Kumpels zum Essen verabredet und ich hasse Verspätungen. Meine Hand gleitet kurz zu meinem Handy in die Hosentasche, jedoch streicht sie nur flüchtig über die Plastikhülle. Nein, anrufen und unser Treffen verschieben mag ich nicht. Ein Sebastian Herwig verschiebt keine vereinbarten Treffen. Jedoch zu Fuß mit vollen Einkaufstüten kann ich es unmöglich rechtzeitig schaffen. Wieder gleiten meine Finger unschlüssig zu dem Mobiltelefon. Dann erhaschen meine Augen eine Straßenbahn, die geradewegs die Haltestelle gegenüber ansteuert. Da geschieht es: meine Beine setzen sich von selbst in Bewegung. Ich eile, ohne nach links oder rechst zu sehen, über die Straße und springe in die Straßenbahn, gerade als die Türen sich zu schließen beginnen. Geschafft. Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr und nicke erleichtert. So steht meiner Pünktlichkeit nichts im Wege. Ich habe es mal wieder gerockt. Suchend sehe ich mich nach einem Sitzplatz um und werde sogleich fündig. Erleichtert lasse ich mich auf die zwei Bänke fallen und stelle meine vollen Plastiktüten ab. Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen, doch die Entspannung hält nicht lange an. Es liegt nicht an dem penetranten Geruch von Urin, Alkohol oder den verschwitzten Körpern, nein. Auch nicht an den ohrenbetäubenden Lärm von schreienden Kindern, die viel zu laut gestellten MP3-Playern oder dem schrillen Geschnatter alter Frauen. Es ist die scharfe Stimme des Schaffners, die mich hochschnellen lässt.

„Ihren Fahrausweis bitte!“

Ich spüre, wie das Blut aus mir entweicht und Hitze meinen Körper flutet, wie eine riesige Welle. Entgeistert blicke ich in das kantige Gesicht des alten Schaffners, der mich mit strengen Augen mustert. Na prima. Ich wusste, ich habe etwas vergessen. Verlegen fahre ich mir durch mein krauses schwarzes Haar, während die dreckverkrusteten und mit Kaugummi beklebten Wände der gelben Straßenbahn mir entgegenkommen, als wollten sie mich zerquetschen. Meine Kehle ist mit einem Mal staubtrocken.

„Moment“, nuschle ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor und tue so, als würde ich in meinen Sachen nach meiner Fahrkarte wühlen, in der Hoffnung, einen goldenen Einfall zu bekommen. Doch dieser kommt nicht. Stattdessen bilden sich etliche Schweißperlen auf meiner Stirn, die verräterisch glänzen.

„Haben Sie eine Fahrkarte oder nicht?“, dringt die ungeduldige Stimme des Kontrolleurs an mein Ohr und ich muss schlucken. Sonst bin ich schlagfertig, wo bleiben meine Argumente nun?

„Klar hab ich eine“, murre ich etwas ungehalten und krame weiter in meinen Taschen. Muss der denn gleich so aufdringlich und gereizt sein? Da kann man doch nur auf Konfrontation gehen.

„Hören Sie, wie lange wollen Sie denn noch suchen?“

„So lange, bis ich sie gefunden habe.“

„Nun machen Sie sich doch nicht lächerlich – Sie haben doch gar keine Fahrkarte!“ Seine Augen bohren sich stechend scharf in die meinen und ich balle meine Hände zu Fäusten. Der will es wissen. Tausend Augenpaare starren mich amüsiert an und warten auf die Fortsetzung des schlechten Films mit mir als Hauptbesetzung. Es gibt kein Zurück mehr. Das Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich für einen Moment nichts anderes mehr höre. Ich stehe langsam auf ohne meinen Herausforderer dabei aus den Augen zu verlieren. Wir stehen uns gegenüber, wie zwei Kämpfer in einem Ring, vom Publikum umgeben. Spannung liegt in der Luft und auf einmal ist es in der Straßenbahn viel zu still. Wie in Trance beuge ich mich zu ihm vor und halte für einen kurzen Moment die Luft an, als mir eine Wolke aus Pfefferminz entgegenschlägt.

„Ich habe eine Fahrkarte“, zische ich ihm zu und es juckt in meinen Fingern. Vereinzelt ertönt ein verunsichertes Flüstern.

„Genau genommen habe ich die Fahrkarte“, ertönt plötzlich hinter mir eine helle Stimme und durchschneidet die vor Spannung vibrierende Luft. „Er gehört zu unserer Reisegruppe.“

Ich drehe mich um und graublaue Augen strahlen mir betörend entgegen, sodass ich mich gar nicht mehr von Ihnen abwenden kann. Der Kontrolleur blickt frustriert auf die von ihr hin gehobene Fahrkarte, schüttelt genervt den Kopf und zieht mit einem ‚da haben wir ja noch einmal Glück gehabt‘ weiter. Die Schaulustigen wenden sich ab und füllen die Straßenbahn allmählich mit Geräuschen. Immer noch starre ich wie gebannt in das schmale Gesicht der zierlichen Frau, die die unglaublichsten Augen hat, die ich je gesehen habe. Dann erwache ich endlich aus meiner Starre, schnappe meine Tüten und setze mich neben sie, wobei sie mich reizend anlächelt, sodass selbst die Sonne bei Ihrem Lächeln verblasst. Wenn ich es mir so recht überlege gehört der Tag doch nicht verboten – zumindest nicht ganz.