Nachtrandale

 

„Es ist furchtbar. Wir haben fürchterliche Angst.“

Frau Boisenberg blickt mich von unten aus großen grauen Augen an, sodass ich es nicht übers Herz bringe, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ängstlich klammert sie sich an ihren Mann, der vehement den Kopf schüttelt, als könne er damit alle bösen Erinnerungen und Gedanken vertreiben, wie durch einen Zauber. Müde reibe ich mir über meine viel zu trockenen Augen. Ich muss furchtbar aussehen. Nicht einmal meine Haare habe ich mir gekämmt oder meine Zähne geputzt.

„Was … was ist denn überhaupt passiert?“, frage ich verschlafen nach und blinzle gegen das gleißende Licht der grellen Sonne.

„Sehen Sie doch, Frau Sommer, unser Garten!“

Die aufdringliche Stimme meiner Nachbarin hallt unangenehm in meinem Kopf wider und ich hebe mir meine pochende Schläfe. Langsam drehe ich mich nach rechts, um in den kleinen Garten zu sehen. Sorgfältig gepflegte Osterglocken heben sich mit einem knalligen Gelb von dem saftig grünen Rasen ab. Alles erscheint so wie immer und ich möchte mich schon wieder zu dem alten Ehepärchen umdrehen, um nochmals nachzufragen, doch da bemerke ich die beiden umgeschmissenen Liegestühle, die sonst immer eng nebeneinander platziert an der gleichen Stelle stehen.

„In den ganzen Jahren, in denen wir hier wohnen, ist so etwas noch nie vorgefallen“, meint der Fünfundachtzigjährige besorgt und drückt seine Frau, die einen Kopf kleiner ist als er, fest an sich. Nachdenklich fahre ich durch mein strubbliges, aschblondes Haar, das mir wirr ins Gesicht fällt. Es stimmt schon. Mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, dass die Liegestühle immer wieder umgeschmissen gewesen waren, doch ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Alte Leute sind manchmal seltsam und keiner, in meiner Nachbarschaft, gibt sich länger als nötig mit den Boisenbergs ab. Nicht weil sie bösartig wären oder unfreundlich. Nein. Man braucht einfach eine Unmenge an Geduld, wenn man auf sie trifft. Sie reden ununterbrochen und es gibt keinen Knopf, um den erschöpfenden Redeschwall, der über einen einbricht wie eine Sturzwelle, abzuschalten. Ich seufze kapitulierend auf.

„Und das passiert immer nachts?“

„Ja, ja. Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, sind die Stühle umgeworfen. Irgendjemand muss sich nachts in unserem Garten zu schaffen machen. Wer tut denn nur so was?“ Ihre Unterlippe fängt so stark an zu zittern, dass ich befürchte, sie könnte jeden Moment losweinen. So kann ich sie unmöglich wegschicken. Abermals reibe ich mir über meine blauen Augen, dann bitte ich die beiden zu mir rein. Das verspricht ein langer Morgen zu werden.

 

Vorsichtig stapfe ich durch meine dunkle Wohnung und nippe an meinem heißen Kakao. Licht mache ich keins an, denn ich möchte den Täter auf frischer Tat ertappen. Drei Tage sind nun seit dem Gespräch mit meinen Nachbarn vergangen und jeden Morgen waren die Liegestühle umgeschmissen gewesen. Die Boisenbergs drehen mittlerweile fast durch, was ich gut nachvollziehen kann. Es muss schlimm für die Rentner sein, dass sich jemand nachts auf ihrem Grundstück herumtreibt und randaliert. Wobei … randalieren kann man es eigentlich nicht nennen. Ich finde es äußerst seltsam, dass die Blumenbeete immer unversehrt bleiben. Bei einer normalen Unruhestiftung würde alles zerstört werden. Vielleicht handelt es sich nur um einen dummen Streich von Jugendlichen. Ja, das muss es sein. Ein kindischer Streich.

Ich atme den Geruch des dampfenden Kakaos tief ein und schließe kurz meine Augen. Die anderen Nachbarn scheinen sich nicht so sehr für das Problem zu interessieren und lächeln bei dessen Ansprache stets schwach und abweisend. Die Rentner stehen völlig allein da. Ich bin nicht so der Menschenfreund, war ich noch nie, doch das darf nicht sein. Oder?

Als ich meine dritte Tasse leere und mich gerade dafür entscheide, doch in mein warmes Bett zu schlüpfen, welches mich regelrecht ruft, sehe ich zwei dunkle Schatten im Garten der Boisenbergs. Zielstrebig steuern die beiden die eng beisammen stehenden Liegestühle an. Die Statur der Unbekannten ist recht klein und gekrümmt und meine Vermutung mit den Jugendlichen schiebt sich wieder in meine Gedanken. Schnell springe ich auf und rase meine Treppe nach unten, hinaus ins Freie und zu den fremden Schatten, die gerade die Liegestühle umlegen und auseinander schieben. Die entkommen mir nicht. Dafür sorge ich! Der Spuk wird hier und jetzt ein Ende haben. Entschlossen greife ich nach dem Arm der kleinen Gestalt und wirble sie mit Schwung zu mir herum. Ein eisiger Schauer rinnt über meinen Rücken. Ich kann nicht fassen, was ich da sehe und ich bin nicht die Einzige, der es so ergeht. Frau Boisenbergs weit aufgerissenen Augen starren mich entsetzt an und rauben mir jegliche Kontrolle über meinen Körper, den ich mit einem Mal nicht mehr bewegen kann. Viel zu schwer scheint dieser mit der Erde verwurzelt. Auch als Herr Boisenberg mit kurzen Schritten auf uns zu kommt, mir ein flüchtiges, schüchternes und entschuldigendes Lächeln schenkt, seine Frau aus meinem Griff befreit und mit ihr zurück ins Haus trottet, ohne einen Ton zu sagen, bleibe ich regungslos stehen. Etliche Fragen schlittern durch meinen Kopf, wie geworfene Steine, jedoch fassen kann ich keinen. Alles, was bleibt, ist eine bittere Kälte und völlige Leere.