Notlügen

 

Ungeduldig hastete Michael durch die verwinkelten Straßen seines jetzigen Heimatdorfes. Er wunderte sich im Stillen, ob es hier schon immer so ausgesehen hatte, seit er hier wohnte, aber nur kurz. Michael hatte es eilig, denn die Kälte durchzog seine Haut und seine Mitspieler warteten bereits auf ihn.

Kurze Erleichterung durchflutete Michaels schlotternden Körper, als seine müden Augen die ersehnte Telefonzelle erspähten. Schnell sprang er in den kleinen, dreckverschmierten Kasten und kramte hektisch in der Tasche seiner verschlissenen Bomberjacke nach ein paar Münzen. Viel zu lang kam ihm die Sucherei vor, bevor seine Hände schließlich fanden, wonach sie mühevoll kramten. Dann nahm er seinen kleinen Spickzettel aus der Jackentasche heraus, warf einige Groschen ein und wählte widerstrebend die Telefonnummer seiner Mutter.

NUUUUP. NUUUUP.

Das nervige Tuten hallte unverschämt laut in seinen Ohren wider. Gereizt hob Michael seine freie Hand an seine pochende Schläfe. Er wollte gerade auflegen, hatte gehofft, dem Telefonat entkommen zu können, als seine Mutter das Gespräch annahm.

„Beck. Hallo?“

„Hallo Mama. Ich bin‘s. Michael“, meldete er sich und gab seiner Stimme den freudigsten Ton, den er in seiner momentanen Verfassung zustande brachte.

„Michi, wie geht es dir? Was machst du gerade? Wo bist du?“

Zu viele Fragen auf einmal. Sein Kopf fing an zu schwirren. Er musste sich jetzt konzentrieren.

„Ja, mir geht es gut. Wir sind gerade am Strand und relaxen.“

„Schön. Und das Wetter? Ist es immer noch so heiß?“

Michael warf einen kurzen Blick auf seine Notizen. Wo hatte er sich bloß nochmal das Wetter notiert? Er zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und ließ diese angestrengt über den vollgekritzelten Zettel gleiten.

„Michi, bist du noch dran?“

„Ja, ja. Ich bin noch dran. Die Verbindung ist so schlecht“, gab er eilig zurück und klatschte in Gedanken in die Hände, als er endlich den gesuchten Vermerk fand. „Das Wetter ist spitze. Stell dir vor: jeden Tag über 30 Grad, strahlend blauer Himmel von morgens bis abends. Herrlich. Ein Traum. Und dann diese Palmen – sogar hier vor der Zelle. Dattelpalmen, nehm ich an.“

„Das hört sich toll an. Pia hat das mal wieder gut ausgesucht. Sie ist ein echtes Juwel, Michi. Dann bekommst du auch mal wieder ein bisschen Farbe ins Gesicht. Wie geht es Pia?“

Michael verdrehte kurz die Augen. Er hatte noch nie nachvollziehen können, warum seine Mutter so neugierig war und vor allem, dass sie so an Pia hing. Er fuhr sich nervös durch seine fettigen, braunen Haare und schloss für einen Moment die Augen, bevor er ihr mit gespielter Freude antwortete: „Mama, wer will denn heutzutage noch braun werden? Pia geht’s gut. Ich soll dich von ihr grüßen.“

Gudrun, seine Mutter, seufzte auf und schwieg. Suchend hasteten seine Augen über den vollgeschriebenen Zettel. Hatte er schon immer so eine Sauklaue gehabt? Was hieß dieses Wortgefüge? Egal, er musste sich beeilen, um nicht aufzufallen.

„Uns gefällt es wirklich gut. Aber die Sache mit Ala und dem Hai, das war unglaublich!“, begann er erneut und verfluchte sich im nächsten Moment. Das konnte unmöglich Hai heißen, doch er konnte sich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, was er mit dieser unleserlichen Notiz hatte ausdrücken wollen.

„Wer ist Ala und was für ein Hai?“, hörte er die zögerliche und misstrauische Stimme seiner Mutter.

„Ähm… das hab ich dir doch geschrieben“, versuchte sich Michael schnell aus der verzwickten Situation zu retten.

„Nein Junge, das hab ich nicht bekommen. Seltsam.“

„Na ja, es kann schon passieren, dass Kurznachrichten vom Ausland nicht ankommen. Übrigens haben wir gestern eine traumhafte Bootsfahrt bei Vollmond gemacht“, log er rasch und erstickte mit einem Schlag die Zweifel seiner Mutter.

„Ah ja, romantische Bootsfahrt. Schon klar“, meinte Gudrun und lachte amüsiert auf und ihre Stimme dröhnte in seinem Kopf lästig wider.

„Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ein Mal im Jahr muss das sein“, rechtfertigte sich Michael genervt und drehte sich um, da er einen Schatten aus seinen Augenwinkeln wahrnahm. Seine Rettung. „Ich muss Schluss machen, es steht jemand vor der Zelle.“

„Oh, na dann. Okay. Ich wünsch euch noch viel Spaß. Grüß Pia ganz lieb von mir. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch. Tschüss.“

Schwungvoll legte er den Hörer auf und nahm die übrig gebliebenen Münzen aus der Ausgabe. Er drückte sich an dem wartenden Schatten vorbei, ohne die Person genauer zu beachten. Die neugierigen Blicke bemerkte Michael nicht. Sein einziger Gedanke galt dem Onlinespiel, welches er vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Dass er mit Pia schon lange nicht mehr zusammen war, sowie die Kündigung von seinem Arbeitgeber, brauchten seine Eltern nicht zu erfahren. Es ging sie nichts an. Und solange es ihm gut ging und sie in dem Glauben waren, dass er ein geregeltes Leben nach ihren Vorstellungen führte, war doch alles okay, oder? Wer sollte ihm ein paar Notlügen übel nehmen? Mit einem flüchtigen Grinsen auf den schmalen Lippen hetzte der junge, schlaksige Mann nach Hause, wo sein Computer schon im Standby-Modus auf seinen Einsatz wartete.