Stumme Schreie

 

Geschockt starrte ich in ihr tränenverschmiertes Gesicht. Ihr Körper war übersät von Striemen und blauen Flecken. Obwohl sie nichts sagte, konnte ich mir nur allzu gut vorstellen, was geschehen war: Leandro – ihr Verlobter. Wortlos bat ich sie mit einer Geste herein und kochte schweigend Tee für uns beide auf. Sie setzte sich währenddessen auf meine alte Wohnzimmercouch und sah ausdruckslos ins Leere. Was musste wohl in ihr vorgehen? Was hielt sie alles zurück? Versteckt hinter einer dicken, grauen Mauer, verschlossen, tief im Innern ihres Herzens? Vorsichtig trug ich die Kanne mit dem heißen Tee ins Wohnzimmer und goss zwei Tassen damit voll. Ein angenehmer Duft von Jasmin und Zitrus erfüllte den Raum und ließ alle Sorgen und Ängste verfliegen. Zumindest fast, denn als ich zu Judith sah erkannte ich, dass die wohlige Geborgenheit, welche ich in diesem Moment empfand, sie nicht erreichte. Ihre Augen waren von dunklen Ringen umgeben und erinnerten an tiefe, abgründige Gräben in Waldböden. Schlagartig wurde mir wieder kalt und eine seltsame Leere erfasste mich. Ein Teil in mir begann zu brodeln. Wenn sie mit ihrer Situation nicht glücklich war, warum brach sie dann nicht aus? Niemand schrieb ihr vor, dass sie alles stillschweigend erdulden und über sich ergehen lassen musste. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte, die aufkommende Wut gleich eines Vulkans in die Gestik fließen zu lassen und somit im Zaum zu halten. Das half ein bisschen.

„Und was nun?“, brachte ich nur knapp und nicht gerade herzlich heraus. Meine Gefühle hatte ich noch nie richtig verbergen können und ich verfluchte mich dafür. Judith zuckte entkräftet mit den Schultern und ihre glasigen Augen starrten noch immer ins Nichts. Mein Unmut stieg mit jeder verstreichenden Sekunde, in der sie schwieg.

„Ich richte dir die Couch zum Schlafen her. Ansonsten weißt du ja, wo alles steht.“

Es erfolgte keine Reaktion, doch was hatte ich auch anderes von ihr erwartet? Sie erinnerte mich an eine seelenlose Statue aus Marmor. Bleich. Ausdruckslos und tot. Seufzend stand ich auf und richtete lustlos das Nachtlager für sie her. Ich konnte nicht begreifen, wie ein einziger Mann meine damals beste Freundin innerhalb so kurzer Zeit dermaßen zerstört haben konnte. Es war als hätte er ihr all ihre Lebensfreude, Energie und Jugend geraubt. Ausgesaugt wie ein Vampir …

Etwas lieblos legte ich ihr ein Kopfkissen ans Ende der Polstergarnitur und verschwand aus dem Zimmer, ließ sie allein zurück. Nicht einmal einen Gute-Nacht-Gruß hatte ich für sie übrig. Ich verstand sie nicht. Hatte ich vor ein paar Monaten noch Mitleid für sie empfunden, so spürte ich nun nur noch Verachtung. Hätte ich gewusst, dass dies das letzte Mal sein sollte – dass ich sie nie mehr wiedersehen sollte – ich hätte wohl anders gehandelt. Ich hätte sie in den Arm genommen und ihr tröstende Worte zugeflüstert. Ich hätte ihr gesagt, wie viel sie mir bedeutet, und dass sie nicht aufgeben darf. Doch ich wusste es zu diesem Zeitpunkt nicht und ließ mich von meinen törichten Gefühlen leiten. Ich war so dumm gewesen, so unglaublich dumm.

 

Am nächsten Tag war das Wohnzimmer leer. Judith war über Nacht verschwunden, ohne sich zu verabschieden, und ich hatte nichts bemerkt. Es ist unfassbar, wie gelassen und routiniert wir Menschen in manchen Situationen vorgehen. Ich kochte mir meinen Kaffee und frühstückte, so wie ich es immer tat. Um Judith machte ich mir in diesem Augenblick keine Sorgen. Im Gegenteil: Ein Teil in mir fühlte sich erleichtert und irgendwie erlöst. Als wären schwere Eisenketten mit einem Mal von mir abgefallen. Lautlos verpufft. So saß ich in der Küche, bis das Telefon klingelte. Ein grausamer, schriller Ton. Langsam trottete ich in den Flur und nahm das Gespräch mit einem seltsam schalen Gefühl in der Magengegend entgegen. Schlagartig war es vorbei mit meiner Ruhe. Meine Kaffeetasse fiel klirrend zu Boden und die braune Flüssigkeit zog sich penetrant in meinen Teppich. Judith war tot. Sie hatte sich in dieser Nacht aus meiner Wohnung und auf den Bahnhof geschlichen, wo sie sich wartend auf die Bahngleise gelegt hatte. Der Schnellzug nach Lissabon hatte sie gnadenlos überrollt und in Stücke gerissen. Meine Beine begannen zu wackeln und ich ging auf die Knie, da ich keinen Halt mehr fand. Ein verzweifeltes Schluchzen bahnte sich aus meiner Kehle und ich ließ ihm freien Lauf. Judith war tot. Sie würde nie wieder zu mir kommen und bei mir Unterschlupf suchen. Niemand würde ihr je wieder begegnen. Sie war weg – unwiederbringlich … Wie ausradiert. Niemand hatte ihre stummen Schreie gehört. Keiner war da gewesen, um ihr zu helfen. Auch ich nicht. Ich starrte an meine Zimmerdecke und wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können. Doch nichts passierte. Ich hatte den Zeitpunkt verpasst und der Schmerz fraß sich in mein tiefstes Innerstes wie ein Parasit. Vor meinem geistigen Auge spielten sich immer wieder die gleichen Bilder und Szenen von damals ab. Dennoch konnte ich den Verlauf nicht ändern. Alles was mir blieb, war als nutzloser Zuschauer zu fungieren. Immer und immer wieder. Ich hatte meine Chance verpasst – hatte den bequemen Weg vorgezogen, doch zu welchem Preis? Mit einem verzweifelten Schrei trat ich gegen die Kommode im Flur. Sie wackelte gefährlich und ein eingerahmtes Foto flog zu Boden, direkt vor meine Füße. Der Glasrahmen splitterte auseinander, um sich ebenfalls auf den Fußboden zu verteilen. Mein tränenverschmierter Blick glitt zu dem Foto. Es zeigte Judith und mich als unsere Welt noch in Ordnung gewesen war. Meine Augen blieben an dem Gesicht von meiner Freundin hängen. Erst jetzt fiel mir auf, dass nur ihr Mund lächelte. Wieso war mir ihre Traurigkeit zuvor nie aufgefallen? Unzählige Erinnerungen kreuzten meine Gedanken, in denen ich ihr mein Herz ausgeschüttet hatte. Judith war eine gute Zuhörerin gewesen. Nie hatte sie mich unterbrochen oder mich weggeschickt. Ein dicker Kloß bildete sich in meiner Kehle und machte es mir unmöglich zu schlucken. Schnell drehte ich das Foto um und starrte ins Leere. Mein Kopf begann dröhnend zu hämmern und ich schloss schnell meine Augen. Nur an nichts mehr denken, nichts mehr wahrnehmen. Plötzlich flammte in mir das Gesicht von Judiths kleiner Tochter auf. Allein. Weinend. Wartend. Bei Leandro. Ruckartig stand ich auf und ging entschlossen zur Tür. Noch war nicht alles zu spät. Es durfte sich nicht wiederholen. Nicht wieder passieren. Das würde ich nicht zulassen. Bei Judith hatte ich meine Chance verpasst, doch Fiona war noch am Leben. Ihre stummen Schreie würde ich nicht überhören.